Von der Beratung der chinesischen Gesundheitsbehörden bis zur Entsendung von Medizinerinnen und Medizinern an Krankenhäuser in Wuhan, die Expertise des deutsch-chinesischen Alumnifachnetzwerks ist gefragt.

Solidarität unter Mediziner/innen aus der Psychiatrie und Psychosomatischen Medizin: DCAPP-Projektpartner Prof. Zhao Xudong (ganz links im Bild) schickt drei Mitarbeiter zur Unterstützung aus Shanghai nach Wuhan.

Expertenwissen auf dem Gebiet der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie ist in China derzeit sehr gefragt. Aufgrund der Corona-Pandemie stehen und standen dort Millionen von Menschen unter Quarantäne; in der Stadt Wuhan allein waren es zeitweise elf Millionen. Die chinesische Bevölkerung und insbesondere das eingebundene medizinische Personal müssen mit extremen Emotionen von Panik, Schock, Verwirrung, Wut, Trauer, Schuld und Hilflosigkeit umgehen. Diese akute Krisensituation führt zu vielen psychosomatischen und psychologischen Beschwerden. Auch diese müssen vom Krisenmanagement adressiert werden, nicht nur in China. Mit der Verlagerung des Zentrums der Pandemie nach Europa können Expertinnen und Experten auch hierzulande aus den Erkenntnissen der chinesischen Praxis viel für das eigene Krisenmanagement lernen.

Das Alumnifachnetz für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DCAPP) leistet hierzu einen wesentlichen Beitrag. Seit 2 ½ Jahren fördern Expertinnen und Experten der Heidelberger und Freiburger Universitätskliniken gemeinsam mit ihren chinesischen Kooperationspartnerinnen und -partnern (am Shanghai East Hospital, Tongji University, an der West China Sichuan University in Chengdu und am Peking Union Medical College Hospital) den Aufbau der in China noch sehr vernachlässigten Disziplinen Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an chinesischen Lehrkrankenhäusern und Universitäten und leisten damit Pionierarbeit. In der aktuellen Krise dient ihr Expertenwissen nicht nur dazu, die chinesischen Gesundheitsbehörden in der psychologischen Krisenintervention zu beraten. Viele der von DCAPP in Psychosomatischer Medizin ausgebildeten chinesischen Medizinerinnen und Mediziner, Psychologinnen und Psychologen und Pflegekräfte helfen zudem auch vor Ort.

DCAPP-Experten beraten Gesundheitsbehörden in der psychologischen Krisenintervention

Prof. Zhao Xudong, Leiter des Pudong Mental Health Centers in Shanghai, ist einer der DCAPP-Projektpartner. Gemeinsam mit anderen Kollegen leitete er eine Krisensitzung zur psychischen Belastung der Bevölkerung im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus. Aus den Ergebnissen hat das Nationale Gesundheitskomitee Chinas bereits Leitlinien zur „psychologischen Versorgung der in Not befindlichen Bevölkerung“ erarbeitet. Außerdem entsandte sein Team kürzlich drei Psychiater zur Unterstützung nach Wuhan, darunter auch einen Teilnehmer der DCAPP-Mentorengruppe, einem Weiterbildungsprogramm für Nachwuchswissenschaftler in der Psychosomatischen Medizin.

Dr. Li Wentian, ebenfalls Teilnehmer der DCAPP-Mentorengruppe und Abteilungsleiter für klinische Psychologie am Mental Health Center in Wuhan, ist mitverantwortlich für den psychologischen Dienst in Wuhan, dem Ursprungsort des Virus. Prof. Wei Jing und Prof. Zhang Lan, Kooperationspartnerinnen von DCAPP, leiten wiederum den psychologischen Notfalldienst in Peking und Chengdu. Alle oben genannten Mediziner bieten aktuell Supervisionen zum Umgang mit Menschen im Ausnahmezustand an (u.a. Panik, Trauer, Angst, Depression, Traumatisierung), betreuen das unter starkem Stress stehende medizinische Personal und leisten psychologische Betreuung schwerkranker Patientinnen und Patienten, die sich bis zur palliativen Arbeit erstreckt. Es wurden Hotlines eingerichtet, die von psychologischem Fachpersonal betreut werden. Kostenlose Onlinekurse zum Thema „psychologische Gesundheit“ und „psychologische Selbsthilfe“ werden der Bevölkerung sowie dem überlasteten medizinischen Personal zur Verfügung gestellt. Koordiniert werden diese Maßnahmen vom Regierungskomitee für Gesundheit und dem Komitee für Psychologisches Counselling und Psychotherapie.

Analyse erster statistischer Daten – Auswertung auch für Deutschland relevant

Dr. Li Wentien analysierte kürzlich erste statistische Daten seines psychologischen Dienstes in der Stadt Wuhan und teilte diese Informationen mit den DCAPP-Mitgliedern. Ausgewertet wurden 2144 Hotline-Anrufe im Zeitraum vom 4. bis 20. Februar 2020, mit folgendem Befund:

Unter den Anrufern hatten 47,3% Angstzustände, 19,9% Schlafprobleme, 15,3% somatoforme Symptome, 16,1% depressive Symptome und 1,4% andere emotionale Zustände (wie Einsamkeit, Müdigkeit und Unruhe). 39% der Anruferinnen und Anrufer suchten Unterstützung bei der Bewältigung von Aufgaben des alltäglichen Lebens (u.a. Einkaufen, Verkehr, Umgang mit einer medizinischen Diagnose und Behandlung und Erwerb von Schutzmasken). 19,6% berichteten von Angst, Unruhe und Schlaflosigkeit, die durch Medienberichte über die Epidemie und die Reaktion der Gesellschaft verursacht wurden. 15,7% berichteten über Panik, ein Engegefühl in der Brust und körperliche Symptome ohne Verdacht auf eine Lungenentzündung (somatoforme Symptome). 4,3% hatten Symptome einer Lungenentzündung vermutet und waren besorgt über eine mögliche Infektion. 21,4% hatten andere psychosoziale Probleme (wie zwischenmenschliche Konflikte in der Familie und Probleme am Arbeitsplatz).

Emotionaler Stress kann körperliche Beschwerden verursachen

Der emotionale Stress kann sich auch in Form von körperlichen Beschwerden, wie Herzklopfen, Atemnot, Engegefühl in der Brust, Magen-Darm-Beschwerden, Schwindel, Kopfschmerzen, Einschlafstörungen und Albträumen äußern. Das Ausmaß der langfristigen psychosozialen Folgen des weltweit verbreiteten Coronavirus wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. In den letzten Monaten seit Ausbruch des Virus in China hat das DCAPP-Projekt enge fachliche Zusammenarbeit mit den chinesischen Kollegen gepflegt. Das Alumni-Fachnetzwerk dient in diesem Rahmen als Plattform und Infrastruktur, um Kompetenz und Fachwissen rasch auszutauschen und weiterzugeben, Kontakte zu vermitteln und Kooperationen zu initiieren. Nun, da sich das Epizentrum der Pandemie nach Europa verschoben hat, sind diese unmittelbaren Erfahrungen nicht nur für die chinesischen Fachnetzmitglieder, sondern auch für ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen sehr relevant und können dabei helfen, die Situation in Deutschland und Europa zu verbessern.

Für Informationen oder Fragen zur Arbeit des Fachnetzes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DCAPP) wenden Sie sich bitte an Prof. Dr. med. Jonas Tesarz, Universitätsklinikum Heidelberg.

Lesen Sie hier einen Erfahrungsbericht aus Wuhan

Quarantäne und ihre psychologischen und gesellschaftlichen Folgen: ein Erfahrungsbericht aus Wuhan

Am 23. Januar 2020 wurde die Stadt Wuhan, der Ursprungsort des Coronavirus in China, unter Quarantäne gestellt und anschließend zusammen mit Wuhan die ganze Provinz Hubei. Es ist wohl eine der bisher größten Quarantäneanordnungen weltweit. Insgesamt sind mehr als 50 Millionen Einwohner von den strengen Isolationsvorschriften betroffen. Seit nunmehr über zwei Monaten dürfen die Menschen in Wuhan und Umgebung ihre Wohnungen nur noch für unabdingbare Aktivitäten, wie beispielsweise den Einkauf von Lebensmitteln oder nicht aufschiebbare Arztbesuche verlassen. Zuwiderhandlungen werden geahndet. Welche psychosozialen Folgen solch ein Ausnahmezustand herbeiführen kann, und wie man damit umgehen soll, untersuchen Forscher des Deutsch-Chinesischen Alumninetzwerks für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DCAPP).

Dr. Li Wentian ist Abteilungsleiter für Klinische Psychologie am Wuhan Mental Health Center und leitet den psychologischen Dienst für das vom Coronavirus am schwersten betroffenen Gebiet. Er wertete bereits im Februar die Hotline-Anrufe aus, um entsprechende Maßnahmen für die psychologische Krisenintervention vorzuschlagen. Nun liegt eine zweite Datenanalyse vor, die die psychosozialen Reaktionen der Menschen unter Quarantäne erfasst.

Im Rahmen dieser Untersuchung wurden Ende Januar 2020 mittels einer Online-Plattform die Einwohner von Wuhan und Umgebung zu ihrem psychischen Gesundheitszustand sowie ihrem Wissen und ihrem Informationsbedarf über das Coronavirus befragt. In nur vier Tagen gingen insgesamt über 5.000 gültige Fragebögen ein. Die Auswertung der Ergebnisse zeigte, dass es zu einer massiven Belastung der Betroffenen durch die ausgelösten Ängste und damit einhergehenden seelischen und körperlichen Folgen kommt. Im Vordergrund stehen hier Gesundheitsängste, Schlafstörungen und psychische Begleitreaktionen:

Gesundheitsängste:
• 77% der Bewohner sind besorgt, dass sie bereits mit dem neuen Coronavirus infiziert sind
• 89% der Bewohner sind besorgt darüber, dass ihre Familienmitglieder bereits mit dem neuem Coronavirus infiziert sein könnten
• 28% der Bewohner schätzen, dass sie mit hoher bis sehr hoher Wahrscheinlichkeit  mit dem neuem Coronavirus infiziert sind
• 47% der Einwohner glauben, dass die Wahrscheinlichkeit des Todes durch das Coronavirus hoch bis sehr hoch ist
• 46% der Einwohner glauben, dass die Wahrscheinlichkeit einer Heilung der Virus-Infektion gering bis sehr gering ist

Schlafsituation:
• 28% der Bewohner hatten im letzten Monat so starke Einschlafschwierigkeiten, dass sie mehr als zwei Stunden benötigten um einzuschlafen
• 25% hatten im letzten Monat so starke Durchschlafschwierigkeiten, dass sie mindestens zwei Stunden benötigten, bis sie wieder einschlafen konnten
• 10% berichteten über Albträume. Der Inhalt des Traums bezog sich hierbei überwiegend auf die COVID-19-Erkrankung, infizierte Familienmitglieder, fehlende medizinische Versorgung, Tod und das Ende der Welt

Psychische Begleitreaktionen:
• 10% der Einwohner sind kürzlich in Panik geraten
• 7% waren in letzter Zeit oft pessimistisch; 18% waren in letzter Zeit oft besorgt; 7% haben sich in letzter Zeit oft hilflos gefühlt
• 5% der Einwohner waren kürzlich wütend
• 3% waren in letzter Zeit oft verzweifelt

Die Datenanalyse lässt erkennen, dass die Krisensituation v.a. Angstzustände und vegetative Begleitreaktionen wie Schlafstörungen bei den Einwohnern in Wuhan ausgelöst hat. Es kam auch zu Depressionen und Panikreaktionen. Die chinesischen Kollegen haben eine Reihe psychologischer Methoden für die Angstbehandlung angewendet. Der erste Schritt zur Panikreduzierung, so betonte Dr. Li Wentian, ist jedoch die Beseitigung der Unkenntnis über das Virus bzw. die Vermittlung des korrekten Wissens über das Virus und die gesamte Situation.

Es gibt folgende Empfehlungen von den Kollegen in China:
(1) Adäquate Versorgung mit aktuellen Informationen über die Entwicklung der Epidemie, die Anzahl der bestätigten Diagnosen und Todesfälle sollte wahrheitsgemäß und vollständig gemeldet und veröffentlich werden, damit jeder die aktuelle Situation erfassen und Panik vermeiden kann. Vermeidung von Vertrauensverlust in die Führung und Medien.
(2) Fördern Sie das korrekte Wissen über das Coronavirus, die Infektionswege sowie Schutzmaßnahmen, damit die Bevölkerung das Gefühl von Sicherheit und Selbstwirksamkeit entwickeln kann. Vermeiden Sie es, das Virus zu dämonisieren.
(3) Richten Sie nationale und regionale psychologische Hotline-Serviceangebote sowie Social-Media-Plattformen für die Online-Konsultation ein. Der Hotline-Service in Wuhan zum Beispiel hatte bis zum Zeitpunkt der Untersuchung mehr als 7.000 Anrufe erhalten.
(4) Zur Verwirklichung der oben genannten Ziele spielten in Wuhan der Einsatz von öffentlichen Medien und sozialen Netzwerken eine wichtige Rolle. Durch die Nutzung des breiten Netzes an Social-Media-Angeboten konnten in kurzer Zeit die meisten Bewohner in China erreicht werden.

Neben einer adäquaten Informationspolitik ist die Sicherstellung der Basisbedürfnisse für die Reduzierung von Angst und psychischen Stress in Wuhan unabdingbar. Um die Versorgung der in Quarantäne stehenden Bevölkerung zu sichern, wurden Lebensmittel und medizinische Ressourcen aus ganz China nach Wuhan geliefert. Die öffentliche Verwaltungsstrukturen spielen hier eine wichtige Rolle. Das Verwaltungsbüro jeder Gemeinde funktioniert als Drehpunkt der Organisation in jedem Wohnblock. Sie kaufen bspw. Lebensmittel für die Gemeindebewohner, kontrollieren die Ausgangssperre, machen Hausbesuche, organisieren Taxis für die Fahrt zu Krankenhäusern etc.. Die großen Online-Lebensmittelhändler (Jingdong etc.) in China blieben während der Epidemie geöffnet, um die Versorgung der Menschen zu gewährleisten.

Derzeit stehen die Psychologen, psychosomatischen Mediziner und Psychiater in China in engem Austausch, um eine China-weite Versorgungsplattform zur Verbesserung des Informationsaustauschs und des Screenings von Risikogruppens sowie zur psychosomatischen und psychologischen Grundversorgung aufzubauen. Mit Online-Vorträgen, Web-basierten Kursen, populärwissenschaftlichen Erklärungsartikeln und Videos soll Material zusammengestellt werden, das dabei hilft, Ängste und Belastungsreaktionen in der Bevölkerung zu reduzieren und die psychologische Gesundheit zu fördern. Konkret kommen eine Reihe von psychologischen Methoden zum Einsatz, die sich bei der Reduzierung von Stress bewährt haben. Eine detaillierte Darstellung der angewandten Methoden in China wird das DCAPP-Forscherteam demnächst zusammenstellen.

„Wir glauben, dass unsere Bemühungen vielen Menschen in Not geholfen haben“. Dr. Li Wentian erklärte weiter: „In der Phase der akuten medizinischen Virusbekämpfung steht die klinisch medizinische Versorgung an oberster Stelle. Die psychologische Krisenintervention hat eine unterstützende Funktion. Nun stabilisiert sich die Situation langsam in China, und unsere Arbeit beginnt jetzt richtig. Die Bewohner in der Stadt Wuhan und in der Hubei Provinz haben in den letzten Monaten Unglaubliches erlebt und viele Opfer gebracht. Die Behandlung von Traumata kann Monate oder sogar Jahre dauern.“

Lesen Sie auch die Meldung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)