Viele deutsche und chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wagen den Schritt in das jeweils andere Land. Ein Arbeitsaufenthalt bietet die einmalige Chance, das Gastland über einen längeren Zeitraum kennen zu lernen. Aufgrund der unterschiedlichen Kulturen, Arbeitsweisen und Abläufe im täglichen Leben sind die Zeiten als „Expat“ besonders eindrucksvoll.
Im Rahmen des DCHAN Netzwerks für Ingenieurwissenschaften führen wir regelmäßig Interviews mit Alumni, um diese wertvollen Erfahrungen zugänglich zu machen.
Diesmal konnte Prof. Frank Kemper als Interviewpartner gewonnen werden.
Frank Kemper ist promovierter Bauingenieur und seit 2014 im Rahmen einer Kooperation an der Zhejiang University of Science and Technology tätig. Seit 2016 ist er von der TH Lübeck vollständig an das Chinesisch-Deutsches Institut für Angewandte Ingenieurwissenschaften (CDAI) entsendet und dort als deutscher Dekan für die Leitung vor Ort zuständig. Daneben ist er Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Center for Wind and Earthquake Engineering (CWE) an der RWTH Aachen.
Lesen Sie hier das Interview
Herr Prof. Kemper, deutsche Hochschulen haben seit vielen Jahren vielfältige Kooperationen mit chinesischen Hochschulen aufgebaut, sowohl in Form des Doppel-Master-Programms als auch in Form von Forschungsprojekten, so z.B. zwischen der RWTH Aachen und der Tsinghua Universität. Die Kooperation in Bildung und Forschung der angewandten Ingenieurwissenschaften steht hierbei im Fokus. Als Leiter des Chinesisch-Deutschen Instituts für Angewandte Ingenieurwissenschaften (CDAI) sind Sie einer der Vorreiter auf dieser Kooperationsebene. Was war Ihre persönliche Motivation, nach China zu gehen und die Kooperation der beiden Länder in diesem Bereich voranzutreiben?
Um ganz ehrlich zu sein, früher hätte ich mir kaum vorstellen können, für einen so langen Zeitraum in China oder überhaupt im Ausland zu arbeiten. Ich habe das Kooperationsprojekt im Jahr 2014 kennengelernt, als ein Gastprofessor für einen zweiwöchigen Aufenthalt gesucht wurde, der ein Lehrangebot im Bereich Stahlbau übernehmen möchte. Da mich eine akademische Tätigkeit interessiert hat, hielt ich dieses Angebot für sehr attraktiv, so dass ich mich darum beworben habe. Das gleiche Modul habe ich dann im darauffolgenden Jahr noch einmal angeboten.
Während dieser beiden Aufenthalte habe ich festgestellt, dass die Menschen, die in der deutsch-chinesischen Bildungskooperation arbeiten, besonders engagiert, weltoffen und herzlich sind. Das hat mir sehr gut gefallen.
Die Motivation für uns als deutsche Hochschulangehörige war es, unsere deutsche anwendungsbezogene Ingenieurausbildung nach China zu bringen – und dies war damals der erklärte Wunsch der chinesischen Partner. Es wurde uns erklärt, dass das deutsche Modell in Bezug auf den Fachkräftemangel der aufstrebenden chinesischen Wirtschaft für vielversprechend gehalten wird und Unterstützung für eine Lehrreform im Bereich der Ingenieurausbildung gesucht wurde.
Das war der Grund, weshalb ich im Jahr 2016 einen Ruf der TH Lübeck angenommen habe und im Rahmen einer Entsendung von deutscher Seite maßgeblich am Aufbau des CDAI beteiligt war.
Was ist Ihnen besonders am Anfang in China aufgefallen und was hat Sie überrascht?
Nun, was zuerst auffällt, wenn man in einer chinesischen Großstadt ist – wie bei mir in der wunderschönen Stadt Hangzhou – ist, dass das Leben überaus modern und vielfältig wirkt. Typische chinesische Viertel, traditionelle und westliche Restaurants, gewaltige und hochpolierte Einkaufzentren – in diesen Ausmaßen und Auswüchsen hätte ich das nicht erwartet. Für mich ist aber vor allem auffällig, dass China ein sehr ambivalentes Land ist. In vielerlei Hinsicht: Die aufstrebende Wirtschaft, die internationalen Kooperationen von Unternehmen und Hochschulen, das Streben nach Bildung und Wohlstand in der Bevölkerung auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite ist die zunehmende Zurückhaltung gegenüber allem „westlichen“ zu bemerken, die immer spürbarere Regulierung des Internets und die kleinen und großen Schwierigkeiten im Detail, wenn es um den Austausch von Studierenden und die Anstellung von ausländischen Lehrenden an chinesischen Hochschulen geht. Diese für eine Öffnung des Landes wichtigen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Jahren nicht gerade verbessert.
Ihr Forschungsgebiet heißt Windingenieurwesen – das umfasst die Windwirkung auf Tragwerke und Gebäude. Das ist eine wesentliche Grundlage für z.B. Windenergieanlagen. Sowohl Deutschland als auch China haben eine eigene Energie-Strategie erstellt. Wussten Sie vorher schon, wie intensiv die beiden Länder in diesem Bereich zusammenarbeiten, z.B. in Form von Projekten, Workshops und Symposien? Gibt es diese Kooperation auch in der Industrie?
Ich bin sehr froh, dass China dem Pariser Klimaschutzabkommen beigetreten ist und sich ambitionierte Maßnahmen zur CO2-Einsparung vorgenommen hat. Wenn davon ein nennenswerter Anteil auf nachhaltige Energiequellen wie die Windenergie fällt, ist das eine gute Entwicklung für uns alle. Aufgrund des gewaltigen Wachstums der chinesischen Wirtschaft führt China leider auch mit deutlichem Abstand die Liste der CO2 Emittenten an (mehr als die Kontinente Amerika und Europa zusammen). Ich denke, dass eine Kooperation in nachhaltiger Energiewirtschaft eindeutig im globalen Interesse wäre.
Zurzeit arbeiten wir an einer Kooperation mit der Zhejiang Universität im Bereich Windingenieurwesen – also in der Lehre. Ein Gespräch über mögliche Forschungskooperationen ist ebenfalls geplant.
Sehr gerne würde ich die Netzwerke der RWTH Aachen oder von DCHAN dafür nutzen, um mit weiteren Partnern in China über Forschungskooperationen in der nachhaltigen Energiewirtschaft und der Windenergie zu sprechen.
Natürlich haben beide Länder auf einzelnen Gebieten Stärken und Schwächen. Wie können die deutschen und chinesischen Kooperationspartner Ihrer Meinung nach voneinander lernen?
Ich denke, das Wichtigste in der aktuellen Lage ist, dass wir Wege finden, um weiter miteinander im Gespräch zu bleiben. Ich habe gelernt, dass die Systeme so unterschiedlich sind, dass es eigentlich nur möglich ist, bestimmtes Wissen, gewisse Fertigkeiten oder Methoden voneinander zu erlernen. Bei grundsätzlichen Themen oder Herangehensweisen ist es ungleich schwieriger und die Widerstände und Vorbehalte auf beiden Seiten sind schnell spürbar.
Das jedenfalls habe ich in meiner Zeit vor Ort gelernt. Es scheint mir deshalb umso wichtiger, dass man sich ehrlich macht bei der Definition von Zielen einer Kooperation – vielleicht gilt hier einfach: „weniger ist mehr“.
Die eingangs beschriebene Lehrreform ist dafür ein Beispiel. Man kann sich so etwas vornehmen, jedoch kommt man damit schnell in die Bereiche des Grundsätzlichen und da wird es für alle Beteiligten schwierig.
Insofern appelliere ich dafür, dass es punktuelle Zusammenarbeit in technischen Disziplinen gibt, wenn sie im gegenseitigen Interesse liegt und dass man strategisch insofern zusammenarbeitet, als dass man die Sprachkompetenzen in der Ausbildung fördert, so dass Austausch und Kommunikation ermöglicht werden.
Sie haben Arbeitserfahrung an der Hochschule, sowohl in Deutschland als auch in China. Welche Unterschiede gibt es Ihrer Erfahrung nach in Bildung und Forschung auf beiden Seiten?
Kurz gesagt: Es ist extrem unterschiedlich im Detail. Ein Aspekt ist der durch die große Konkurrenzsituation bedingte Druck in der chinesischen Gesellschaft in Verbindung mit der sogenannten Gaokao-Selektion für die Hochschullaufbahn. Schüler lernen mit extremem Zeitaufwand für die Schule – aber aus meiner Sicht nicht so sehr fürs Leben. Damit meine ich, dass die Kompetenzbildung mit Blick auf Eigenstudium, Projektarbeiten und Vorträgen im Vergleich zum deutschen Schulsystem zu kurz kommt. Durch die Bedeutung der Schulbildung ist eine intrinsische Studienfachwahl kaum möglich, da die Schüler neben der Schulausbildung kaum Zeit haben, eigene Erfahrungen zu sammeln oder eigenen Interessen nachzugehen. Entsprechend hoch ist dann der Anteil derer, die zwar gemäß Gaokao-Note für Studienfächer qualifiziert sind, aber bei denen sich dann herausstellt, dass die Thematik gar nicht so gut gefällt. Studiengangswechsel sind jedoch schwierig und entsprechend selten.
Mit Sorge blicke ich in dem Zusammenhang auf die Tendenz der mittleren Gaokao-Noten der „Freshmen“ in den internationalen Programmen. Vor ca. vier Jahren hat es da einen plötzlichen Einbruch der Noten gegeben, über den sich auch andere deutsche Hochschulen beklagen. Da die Kooperationsstudiengänge aber durch Sprach- und Kompetenzerwerb in Fachdisziplinen gerade besonders fordernd sind, ist diese Entwicklung wirklich problematisch.
Auch das Studium ist, ähnlich wie die Schulzeit, in China eher strikt organisiert und es gibt kaum Zeit für Eigenstudium. Die Prüfungen sind eher wissens- als kompetenzorientiert. Viele Studierende haben den Studiengang nicht gezielt ausgesucht, und nur wenige werden später in einem Beruf arbeiten, in dem das Erlernte eine Rolle spielt. In Deutschland bedeutet ein Studium für junge Menschen, dass sie sich weiterentwickeln und dabei Selbständigkeit erlangen. Der Studienverlauf ist flexibel und leistungs- bzw. kompetenzorientiert. Sehr viele Studierende suchen die Studiengänge – auch aus eigenen Erfahrungen heraus – gezielt aus und arbeiten später im gewählten Studienfach.
Sprache ist für die meisten ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein wichtiges Thema; nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im Alltagsleben. Ich nehme an, dass sich diese Frage für Sie wegen der internationalen Atmosphäre auf dem Campus eher weniger stellt, da man dort in jedem Fall Englisch verwenden kann, oder? Wie ist es in Ihrer Freizeit, empfinden Sie die Sprache außerhalb des Campus als problematisch?
Die Sprache spielt in meiner Tätigkeit keine besonders große Rolle. Meine Lehrveranstaltungen halte ich auf Deutsch, im Institut sprechen die Kolleginnen und Kollegen Deutsch oder Englisch. Außerhalb der Universität habe ich viele chinesische oder internationale Freunde gefunden.
Ich bin häufig zu großen Radtouren im Land unterwegs. Obwohl ich selbst nur wenig Chinesisch spreche, komme ich überall prima zurecht. Notfalls kann man mit dem Handy alles übersetzen.
Im Jahr 2020 sind Sie trotz der COVID-19-Pandemie aus beruflichen Gründen nach China geflogen. Momentan ist die Lage in China schon viel besser als in Deutschland. Welche Maßnahmen zur Kontrolle der Pandemie in China könnte Deutschland aus Ihrer Sicht wahrscheinlich auch erwägen?
Die Aufarbeitung der Pandemie wird die Welt noch lange beschäftigen. Aus meiner Sicht gibt es vieles zu lernen. Da gibt es die Verfügbarkeit von günstigen medizinischen Artikeln, dafür sollte jedes Land der Welt eigene sichere Lieferketten haben. Gleiches gilt für Antibiotika und Vakzine.
Da Deutschland keine jüngeren Erfahrungen mit einer solchen Situation hatte – im Gegensatz zu Asien – wurden hier viele unnötige Fehler gemacht, wie beispielsweise die Zurückhaltung bei der Verwendung von Masken.
Ich denke auch, eine stärkere zentralisierte Behandlung einer solchen Notlage wäre effizienter – dem steht der deutsche Föderalismus entgegen. Allerdings hat uns die deutsche Geschichte auch gelehrt, dass zu viel zentrale und autoritäre Macht mit größter Vorsicht zu sehen ist. Möglicherweise gibt es aber Situationen, wo es schlicht notwendig ist zu zentralisieren – ein stark verwundeter Körper tut das auch.
Der Weg zu den Impfstoffen mit eigener starker Forschungsleistung und transparenter Offenlegung aller Daten haben dafür gesorgt, dass ein deutscher Impfstoff in der globalen Pandemiebekämpfung eine wesentliche Rolle spielt. Ich würde mir wünschen, dass alle Impfstoffe ein weltweites Gut werden und die wissenschaftlich festgelegten Zulassungsverfahren der WHO durchlaufen.
Was ist rückblickend Ihre wesentliche Erkenntnis mit Blick auf die Zeit Ihrer Entsendung an das CDAI in Hangzhou?
Das, was ich schon zuvor gesagt habe, ist wirklich der wesentliche Aspekt meiner Erfahrung: In der deutsch-chinesischen Kooperation gilt aus meiner Sicht, dass „weniger mehr“ ist. Konkrete Themen, konkrete Aufgabenteilungen, klare und eher kurze Zeiträume, Nachevaluation des Erreichten – nichts Grundsätzliches.
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DCHAN Abschlusspublikation
Die Abschlusspublikation des Begleitvorhabens beim DAAD gibt Einblicke in die Praxis fachlicher Kooperation deutscher und chinesischer Alumni von 2017 bis 2021. Sie können diese hier (pdf, 1,44 MB) herunterladen.